Studium der Schriften

Svadhyaya ist ein Sanskritbegriff und bedeutet „Studium der Schriften“ sowie „Selbststudium“ oder „Meditieren über das Selbst“. Bereits in den Veden, deren Entstehung zwischen 700 v. Chr. und 200 v. Chr. angenommen wird, ist Svadhyaya als ein fester, unabdingbarer Bestandteil zur Entwicklung von Wahrheitssinn, innerem Frieden und als ein Weg zur Realisation von Brahman („höchste Realität“, „universeller Geist“, „ewiges Selbst“) genannt. Svadhyaya ist ein Glied des Raja-Yoga von Patanjali und wird in der Bhagavad Gita („Gesang des Erhabenen“) erwähnt.

Warum ist Svadhyaya eine sehr wichtige Disziplin für den Menschen und seine Entwicklung?

Wenn man berücksichtigt, dass Svadhyaya geschichtlich immer mit dem Lesen oder Rezitieren von heiligen, inspirierten Schriften untrennbar verknüpft war, könnte ein kurze Antwort auf die Frage lauten:
Das Studium inspirierter Schriften nährt die Seele des Menschen mit dem lebendigen, aus geistiger Schau errungenen Wort.

Rudolf Steiner bezeichnet inspirierte Schriften als „Schriften, die selbst aus der Offenbarung in der Meditation“ entsprossen sind. Wenn er im folgenden Text das Wort „Geheimschüler“ gebraucht, meint er damit einen Menschen, der aktiv und bewusst eine spirituelle Entwicklung sucht:

„Er soll sich vielmehr mit den hohen Gedanken durchdringen, welche vorgeschrittene, schon vom Geist erfaßte Menschen in solchen Augenblicken gedacht haben. Er soll zum Ausgangspunkte die Schriften nehmen, die selbst solcher Offenbarung in der Meditation entsprossen sind. In der mystischen, in der gnostischen, in der geisteswissenschaftlichen Literatur von heute findet der Geheimschüler solche Schriften. Da ergeben sich ihm die Stoffe zu seiner Meditation. Die Geistsucher haben selbst in solchen Schriften die Gedanken der göttlichen Wissenschaft niedergelegt; der Geist hat durch seine Boten sie der Welt verkündigen lassen. Durch solche Meditation geht eine völlige Verwandlung mit dem Geheimschüler vor.“1

Es handelt sich bei inspirierten Schriften also um eine besondere Art der Literatur und diese ist zu unterscheiden von wissenschaftlicher Literatur, von Unterhaltungsliteratur, von psychologischer Literatur usw. und – was erwähnenswert ist – sogar von dem, was man herkömmlich unter esoterischer Literatur versteht.

Eine wirklich tiefgründige esoterische und damit inspirierende Schrift stellt nämlich an den Autor eine hohe Anforderung. Wie Rudolf Steiner es formuliert, muss der Autor in der Lage sein, die geistige Welt wirklich zu erforschen und so in die inneren Kräfte des Daseins eindringen können, wie die Naturwissenschaft in die äußeren Kräfte des Daseins. Dieses hohe Qualitätsmerkmal erfüllen leider nur wenige esoterische Autoren.

Das erkennende Eindringen in das Unsichtbare hinter dem Sichtbaren sollte vollbewusst und aus wacher aktiver Tätigkeit des Ich des Menschen errungen sein und nicht medial, spiritistisch oder durch Eingaben aus der jenseitigen Welt, die passiv empfangen werden. Dadurch kann das jeweilige Objekt der Erforschung präzise charakterisiert werden. Die Gedanken stehen frei vor dem Leser und sind voller Kraft, Wahrheitssubstanz, innerem Feuer und Verwandlungskraft. Ein Geistforscher in diesem Sinne drückt durch die Erkenntnisarbeit und das damit verbundene Opfer selbst eine Synthese zwischen Geist und Materie aus.2

Mahatma Gandhi

Meist sieht und schätzt man bei einem Menschen eine bestimmte Qualität oder Charakterstärke. Beispielsweise steht bei Mahatma Gandhi mit der Befreiung Indiens ein großes Lebenswerk vor Augen. Wenn man an ihn denkt, kommt unweigerlich die authentische Qualität von Gewaltlosigkeit, auf Sanskrit ahimsa, in den Sinn.

Die interessante Frage ist nun, ob ihm diese ausstrahlende und wirksame Kraft von ahimsa gewissermaßen in die Wiege gelegt wurde oder ob er sie im Laufe seines Lebens errungen hat?

Was über Gandhi nicht so bekannt ist, betrifft das Studium der inspirierten Schriften. Er war fasziniert vom Neuen Testament, vor allem von der Bergpredigt.4 Ende der 1880er Jahre lernte er die Bhagavad Gita kennen und sie wurde das wichtigste Buch für sein Leben. Er las täglich in ihr, vor allem das II. Kapitel.5

Die faszinierende innere Kraft von Gandhi kann ich mir erklären, wenn ich sein tägliches Studium von inspirierten Schriften und die täglichen Meditation auf diese Gedanken berücksichtige. Es bildete sich durch Svadhyaya eine innere seelische und geistige Kraft heran, die authentisch, kraftvoll und völlig natürlich nach außen wirkte.

Authentizität ist das Gegenteil von Scheinheiligkeit, die nur in äußeren Worten etwas vorgibt, was jedoch gar nicht im Menschen lebt.

Inspirierte Schriften tragen „innere Geheimnisse“ in sich

Gedanken von anspruchsvollen Schriften, die die Grundlage für Svadhyaya geben, tragen durch den geistigen Gehalt Geheimnisse in sich. Der spirituelle Lehrer Heinz Grill sagt, dass die Eigenschaften, die den wirklichen Wert einer Schrift darstellen, nicht nur in einzelnen Wörtern leben würden, „sondern hinter den Worten“.

„Lesen ist eine Kommunikation einerseits mit den niedergeschriebenen Gedanken, aber andererseits auch mit dem inneren Sinngehalt, der wirklich in dem Worte liegt. Deshalb ist eine immer wieder neu entschiedene Aufmerksamkeit beim Lesen so wesentlich. Die besten Bücher sind in der Regel schwierig, nicht wegen der Wortwahl, sondern weil ihr Inhalt innere Geheimnisse trägt.“6

Praktische Tipps zu Svadhyaya

Aus der Beschäftigung mit den Hintergründen von Svadhyaya und langjährigem eigenen Schriftstudium kann ich Ihnen die folgenden Punkte für die Praxis empfehlen. Sie sind auch im Artikel Svadhyaya in AuroraWiki veröffentlicht:

  • Auswahl einer weisheitsvollen und geistig inspirierten Schrift.
  • Einen Abschnitt daraus zum Studium vornehmen, z. B. einen Absatz. Nicht zu viel Text auf einmal studieren.
  • Denkend eine Vorstellung außerhalb von sich erschaffen. Die Gedanken nicht nach innen nehmen oder nur auswendig lernen, sondern sie im wahrsten Sinne aktiv vor sich hin-stellen = vor seinem Haupt oder im Raum denkend erschaffen.
  • Rhythmus erbauen, z. B. immer morgens oder abends zur gleichen Zeit das Studium der Schriften praktizieren.
  • Dem Text aktiv auch mit Fragen entgegengehen: Was sind die Verben, die Substantive oder die Adjektive? Was möchte der Autor damit ausdrücken? Was ist das Verborgene hinter den äußeren Worten?
  • Auf die stille innere Kommunikation achten, die mit den Gedanken entsteht.
  • Svadhyaya auch ausführen, wenn die persönlichen Gefühle dagegen sprechen oder wenn man keine Lust dazu verspürt.

Ich hoffe, der Beitrag ist Ihnen eine Hilfe. Kontaktieren Sie mich, wenn Sie Fragen zu Svadhyaya oder Fragen zur Meditation haben. Oder schreiben Sie einen Kommentar.

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Nachweise:

  1. Rudolf Steiner: Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? GA 10. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1992, S. 38 ff. ↩︎
  2. Siehe AuroraWiki: Was ist ein Geistforscher? ↩︎
  3. Quelle Foto: Wikimedia Commons ↩︎
  4. M. K. Gandhi: Eine Autobiographie oder Die Geschichte meiner Experimente mit der Wahrheit. Gladenbach 1977, S. 12. ↩︎
  5. Matthias Eberling: Mahatma Gandhi – Leben, Werk, Wirkung. Frankfurt am Main 2006, S. 19. ↩︎
  6. Heinz Grill: Übungen für die Seele. 3. erweiterte Auflage. Synergia Verlag, 2022, S. 82–91. ↩︎